4. Jean de Speratis Fall

WOLFGANG MAASSEN, AIJP

Jean de Sperati wuchs immer mehr in die Rolle des genialen Künstlers hinein, dessen Fertigkeit er selbst als unnachahmbar einstufte. Dieses übersteigerte Selbstbewusstsein war wohl auch der Grund für die neue Kreationslinie der Druckproben, die er ab 1940 in den Handel brachte. Im Gegensatz zu den von ihm verfälschten Einzelmarken, die in aller Regel kunstvoll mit ebenso gefälschten Stempeln entwertet waren, waren diese Druckproben Einzelabzüge auf Papier, das nicht dem Original entsprach, auch kein Wasserzeichen aufwies.


Er signierte jedes Blatt eigenhändig (mit Bleistift) und auf dem oberen Blattrand wurde ein Stempel „REPRODUCTION INTERDITE“ angebracht. Er selbst sah diese Druckproben als Proben seiner meisterlichen Kunst. Gerade weil die Marken ungestempelt blieben, sollte der Sammler die kunstvolle Nachahmung der Marken im Detail sehen und mit echten Marken vergleichen können. Verständlich, dass auch diese Produkte rege Nachfrage hatten.


Eine „Musterseite“ aus einem Auswahlheft de Speratis. Bildvorlage: Michael Burzan
Eine „Musterseite“ aus einem Auswahlheft de Speratis. Bildvorlage: Michael Burzan



Weiterhin belieferte er auch in Kriegszeiten Händler in Europa mit seinen Fälschungen, was ihm aufgrund der auch in Frankreich geänderten gesetzlichen Ausfuhrbestimmungen und der dafür notwendigen Deklarationen im April 1942 zum Verhängnis wurde. Dem Zoll fiel eine eingeschriebene Sendung Jean de Speratis an den portugiesischen Händler Ell auf, in der 18 Marken im Katalogwerte von 223.400 franz. Francs nur mit einem Bruchteil, nämlich 40.100 FF ausgezeichnet waren.[1] Die Sache – de Sperati maß ihr in Kenntnis der französischen Gesetzlichkeiten, die Imitationen erlaubten, vorerst keine große Bedeutung bei – kam im Juli 1943 erstmals vor Gericht. Zuvor hatte Jean de Sperati noch lautstark verkündet: „Ach, was, der Brief enthält keine Wertpapiere; die Briefmarken sind völlig wertlos, es sind ‚Kunstmarken‘, die von mir fabriziert werden.[2]


Dr. Edmond Locard (Foto: um 1915). Bildvorlage: https://de.wikipedia.org/wiki/Edmond_Locard
Dr. Edmond Locard (Foto: um 1915). Bildvorlage: https://de.wikipedia.org/wiki/Edmond_Locard



Bei der Vernehmung hatte sich Jean de Sperati als unschuldig im Sinne der Anklage (Steuerhinterziehung, Vergehen gegen die Ausfuhrverordnung) bekannt, allerdings noch keinen Hinweis auf den Tatbestand gegeben, dass es sich um Fälschungen handele. Dies sagte er denn beim Prozess aus, aber der hinzugezogene Sachverständige Dr. Edmond Locard, der wohl bedeutendste Kriminalist damaliger Zeit, der sich erstmals mit Speratis „Marken“ am 12. Juli 1943 näher beschäftigte, kam zu einem völlig anderen Ergebnis: alle Marken seien echt! Locard glaubte zu wissen, wovon er sprach. Er war nicht nur ein Experte auf dem Gebiet der forensischen Ballistik und Toxikologie, sondern hatte sich 1942 auch literarisch in einem „Manuel du Philatéliste“ (Handbuch des Philatelisten) mit dem Thema Abarten, Fälschungen etc. intensiv auseinandergesetzt.

Jean de Speratis Hinweise, dass er zu derart geringen Preisen doch nur Imitationen verkaufen könne und dass er diese alle selbst angefertigt habe, somit nicht gegen das Gesetz und Ausfuhrbestimmungen verstoßen habe, beeindruckten das Gericht nur insoweit, als es erneut ein Gutachten bei Locard in Auftrag gab. Dieser wollte am 8. Dezember 1943 Jean de Sperati die Gelegenheit bieten, sich über seine „Marken“ näher mit ihm auszusprechen. De Sperati lehnte dies aber am 22. Dezember 1943 ab, seine „Marken“ hätten ihm doch bereits vorgelegen und er habe sie doch auch schon eingehend geprüft.

Dr. Locard legte daraufhin dem Appellationsgericht in Chambéry am 4. Januar 1944 ein weiteres Gutachten vor und begründete seine erneute Echtheitseinschätzung: Gerade bei einigen vom Papier her als sehr „schwierig“ einzustufenden Marken sei eindeutig zu sehen, dass diese auf Originalpapier, auf zeitechtem Papier gedruckt worden seien, was man nicht nachahmen könnte, und deshalb seien die Marken unzweifelhaft echt. Sie seien größengleich. Farbunterschiede seien unter der Quarzlampe nicht festzustellen, selbst Wasserzeichen, Zähnungen und Gummierung und sogar die Papierstärke seien identisch. Giovanni de Speratis früher Besuch in der Papiermühle seines Cousins und die Mitnahme schon damals alter Lagerbestände sollte sich hier rächen!


Jean de Sperati und sein „Künstleralbum“ (Foto: 1947). Bildvorlage: WM-Archiv
Jean de Sperati und sein „Künstleralbum“ (Foto: 1947). Bildvorlage: WM-Archiv



Einerseits konnte sich Jean de Sperati ja geschmeichelt fühlen. Trotz zweifacher Expertise wurde der tatsächliche Status seiner Reproduktionen nicht erkannt. Seine Kunst war derart fortgeschritten, dass man seine Fälschungen für echt hielt. Andererseits schwebte über ihm das Damoklesschwert des zu erwartenden Urteils. Deshalb bot er  – nunmehr verzweifelt – an, drei weitere Sets dieser angeblich echten Marken herzustellen. Damit könne er dem Gericht seine „Unschuld“ – im Sinne der Anklage – beweisen. Es nützte ihm wenig. Das Gericht verurteilte ihn zu 5.000 FF wegen der fehlenden Ausfuhrwertdeklaration, weitere 2.477 FF sollte er an Gerichtskosten übernehmen und 60.000 FF für die angeblich begangene Steuerhinterziehung.[3]

Jean de Sperati legte Berufung gegen das Urteil ein. Im Juli 1945 forderte das Gericht dieses Mal gleich drei Experten zu einem Gutachten auf, darunter wieder Edmond Locard, ein Mr. La Flize und Aimé Brun, der zu dieser Zeit einer der namhaften Pariser Händler und auch als Experte und Prüfer tätig war. Keiner der drei so Angefragten reagierte auf das Ersuchen des Gerichtes, vielleicht schien ihnen der Tatbestand zu „schwierig“ (obwohl Brun sicherlich um de Speratis Fälschertätigkeit wusste und wissen musste). Erst im Januar 1948 erklärt der namhafte Philatelist Leon Debus – er war kein Händler – alle Marken seien falsch. Damit war Jean de Speratis Unschuld im Sinne der Anklage eigentlich bewiesen. Aber man mag es für einen Justizirrtum oder einen Treppenwitz der Geschichte halten, dass er dennoch im abschließenden Prozessurteil zu einer Strafe von nunmehr 5.000 FF und zu 20.000 FF wegen Steuerhinterziehung (Verletzung der Zollbestimmungen) zuzüglich der Kosten für das erste Verfahren verurteilt wurde.


Jean de Sperati zur Zeit seines zweiten Prozesses 1947. Bildvorlage: WM-Archiv
Jean de Sperati zur Zeit seines zweiten Prozesses 1947. Bildvorlage: WM-Archiv



Jean de Sperati – dessen „Geschichte“ von der Presse aufmerksam verfolgt worden war – war in all diesen Jahren leichtsinnig geworden. Nur noch selten kennzeichnete er seine Imitate (wozu sollte er denn auch, wenn er trotzdem angeklagt wurde und einer Verurteilung entgegen sehen musste?). Er überließ seiner Schwägerin, Frl. Anna Corne (sie war die jüngere Schwester von Speratis Gattin, während des Ersten Weltkrieges von der Bretagne nach Paris umgesiedelt und lebte seitdem mit der Sperati-Familie zusammen), die Vermarktung solcher Bestände.[4] Dies wurde ihm dann endgültig zum Verhängnis, denn schon am 26. Juli 1946 beklagte ihn der französische Händlerverband[5], vertreten durch die drei Händler Roumet, Nitard und Isaac, dass die Agentur seiner Schwägerin diesen in den Jahren 1943 bis 1945 gefälschte Briefmarken im Wert von 400.000 FF geliefert hätte, aber nicht darauf hingewiesen habe, dass die Marken falsch seien.

Hier lag nun der Fall ganz anders als im ersten Prozess von 1943, der später ja fast zeitgleich weiterlief. Denn dem portugiesischen Händler Ell hatte er Imitationen angeboten, die er als solche auch benannt hatte. In diesem neuen Fall war nun nachweislich scheinbar echtes Material ohne jede Kennzeichnung oder entsprechende Hinweise verkauft worden. Angeklagt wurden nun nicht nur Jean de Sperati selbst, sondern auch seine Frau und eben auch seine Schwägerin. Während des Prozesses verteidigte sich Jean de Sperati mit dem Hinweis, dass diese drei ihn beklagenden Berufsphilatelisten doch wohl Fälschungen erkannt hätten, wenn es denn welche gewesen wären, – warum sie also informieren?


Der Künstler an seinem Arbeitstisch 1947. Bildvorlage: WM-Archiv
Der Künstler an seinem Arbeitstisch 1947. Bildvorlage: WM-Archiv



Seine Verteidigung stand auf hohlen Füßen und machte auf das Gericht wenig Eindruck. Über das fünfstündige Verfahrens und Jean de Speratis Verhalten berichtete der Schweizer Briefmarkenhändler und Publizist der „Basler Taube“, Ernst Müller:

„Seinem ‚feurigen‘ Redestrom, die meisten Silben werden vom zahnlosen Mund verschluckt, will er noch mehr Gewicht geben, indem er die unschuldige Luft um sich herum mit nervösen Armbewegungen bearbeitet. Die eiserne Brille auf seiner Nase macht akrobatische Sprünge zwischen der Nasenspitze und der Stirn. Alles und alle werden angeklagt! De Sperati verteidigt sich wie ein ‚beau-bon petit diable‘. Er will als der unverstandene Künstler gelten, er wünscht, geehrt zu werden, aber nicht vor dem Richter zu stehen. Er ist der alleinige Retter der Philatelie. Die Sammler müssen nicht vor de Sperati, sondern vor den Experten geschützt werden!

Der Gerichtspräsident versucht mehrmals, das Palaver zu unterbrechen, und will ihm das Wort entziehen. Doch de Sperati schreit, jammert, gestikuliert, wiederholt sich, verwirft die Arme, seine in tiefen Höhlen liegenden Augen funkeln – aber der Präsident erhält das Wort nicht. ‚Attendez, attendez! Je n’ai pas fini – enfin, Monsieur le président, si vous y tenez, je vous donne la parole!‘ Das Publikum lacht, die Advokaten ‚schmunzeln‘, und der Staatsanwalt schüttelt den Kopf. Endlich ist das de-Sperati-Trommelfeuer vorbei, und alle Anwesenden schnappen nach Luft. De Sperati, der unverstandene ‚Messias der Philatelie‘ schwitzt und setzt sich.“

Es nützte Sperati alles nichts: Im Urteil vom 27. April 1948 wurde er zu einem Jahr Gefängnis und zu 10.000 FF Strafe, seine Frau Marie-Louise und Frl. Corne zu je vier Monaten Gefängnis und 1.000 FF Strafe verurteilt. Außerdem zu 300.000 FF Schadensersatz und zur Zahlung der Gerichtskosten sowie der Kosten für Veröffentlichungen in zehn philatelistischen Fachzeitschriften, in denen seine „Missetaten“ vorgestellt werden sollten.


Jean de Speratis Verfahren sorgte für Schlagzeilen in der gesamten europäischen Presse. Bildvorlage: WM-Archiv
Jean de Speratis Verfahren sorgte für Schlagzeilen in der gesamten europäischen Presse. Bildvorlage: WM-Archiv



Gegen dieses zweifellos harte Urteil legte Jean de Sperati erneut Berufung ein. Erst vier Jahre später kam es zum endgültigen Entscheid des Gerichtes, der für de Sperati selbst noch schlechter ausfiel: Das Gericht erhöhte das Strafmaß auf zwei Jahre Gefängnis (die allerdings wegen seines fortgeschrittenen Alters und seines schlechten Gesundheitszustandes zur Bewährung ausgesetzt wurden). Es erkannte nun auf insgesamt 500.000 FF Geldstrafe (inkl. der Anzeigenkosten) und auf 137.750 FF Gerichtskosten, summa summarum 637.750 FF. Mehr als doppelt so viel wie im ersten Prozess! Dafür wurden seine Frau und seine Schwägerin nicht bestraft.

Jean de Speratis Druckpresse wurde bei der LONDON 2015 noch einmal aktiviert. Sie befindet sich heute im Museum der Philatelie der RPSL. Foto: Wolfgang Maassen
Jean de Speratis Druckpresse wurde bei der LONDON 2015 noch einmal aktiviert. Sie befindet sich heute im Museum der Philatelie der RPSL. Foto: Wolfgang Maassen



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[1] Chapman schreibt, dass der Handelswert der Marken zwischen 60.500 und 78.000 FF lag, diese aber nur zu einem Bruchteil dessen ausgezeichnet waren. Der Gutachter Locard kam hier aber zu den abweichenden oben genannten Ergebnissen, bezog sich aber auch auf den Katalogwert.

[2] Jean de Sperati verurteilt! In: Die Basler Taube, Mai 1948, S. 64

[3] Die Zahlen variieren in der Berichterstattung. Lucette Blanc-Girardet spricht von einer 500.000 Francs Strafe wegen des Zollvergehens. Auch bei den später genannten Urteilsbeträgen sind Unterschiede zu vermerken, die vom Autor allerdings nicht aufgeklärt werden konnten.

[4] Es scheint heute nicht mehr genau zu identifizieren zu sein, in welchen Jahren Jean de Sperati seine Produkte kennzeichnete und ab welchem Zeitpunkt er dies unterließ bzw. wieder aufnahm. Chapman meint, dass de Sperati erst ab 1942 seine Imitate als solche öffentlich auswies und 30 Jahre zuvor dies nicht gemacht habe. Andere Quellen sprechen davon, dass er generell und mehrheitlich seine Fälschungen signiert bzw. sie als solche verkauft habe, wofür ja auch die Sperati genehme französische Gesetzeslage spricht.

[5] Chambre Syndicale de Négociants en Timbres-Poste, kurz: CSNT-P